Hallo Marc,
gerne beantworte ich dir aus meiner persönlichen Wahrnehmung, die wie bei jeden subjektiv ist, deinen Fragespiegel. Hinzu kommen noch die weiteren unterschiedlichen Konstellationen, bedingt durch das Alter, Lebensbedingungen, weitere Gesundheitsprobleme, etc., die zu vielfältigen Antworten führen.
1. Welche Auswirkungen hat die Inkontinenz auf euer Leben? Was ist anders, als vorher?
Aus Radikalitätsgründen musste bei einer Prostataradikaloperation größtenteils der Schließmuskel mitentfernt werden. Weitere chirurgische Korrekturen erhöhten die Inkontinenz III. Grades.
Für mich hatte es entscheidende Auswirkungen auf mein ursprüngliches Leben. Besonders die psychische Belastung wirkte sich schwer auf mein Befinden aus. Zeitweise war der Leidensdruck so schwer, dass ich ernsthaft aufgeben wollte und das Wertvollste, was der Mensch besitzt, vernichten wollte. Ich habe auch offen im engsten Kreis darüber gesprochen. Von einigen kam auch die ehrliche Antwort: „Reisende soll man nicht aufhalten!“
Weil im privaten Umfeld (Bekannte, aber auch Verwandte) einige diesen unwiderruflichen Schritt gingen, hatte ich die dramatischen Folgen für die unmittelbaren Hinterbliebenen miterlebt.
Zu diesem Zeitpunkt war ich noch selbständig und viel im Außendienst tätig. Damit wurde die Erfordernis standzuhalten noch dringender.
Durch meine Gereiztheit -entstanden durch mein eigenes Unvermögen- geriet ich auch emotional in eine Schieflage, die sich auch auf mein persönliches Umfeld erheblich auswirkten. Kurz gesagt, ich wurde missmutig und oft unausstehlich.
Meine Kraft reichte gerade noch, dass ich im beruflichen Rahmen nicht negativ auffiel. Es stand immer die Angst im Nacken, dass die Kapazität der damals verwendeten Vorlagen/Windeln nicht ausreicht. Der Personenkreis, mit dem ich damals dienstlichen Kontakt hatte, war sehr groß und wechselte permanent, sodass ich grundsätzlich niemanden von den Folgen der Eingriffe etwas mitteilte.
2. Habt Ihr im Alltag Vorurteile oder Benachteiligungen erlebt? (Arbeitgeber, privates Umfeld)
Im privaten Umfeld -meine Verwandtschaft ist ungewöhnlich groß- spüre ich in der Regel keine Vorurteile oder Benachteiligung. Wobei die meine gesundheitlichen Mängel selten ein Thema ist. Zumindest erhalte ich bei den meisten Anerkennung, wie ich die Belastungen des Alltags bewerkstellige.
Differenziert sah es im beruflichen Gesichtskreis aus. Angespornt durch mein Handicap bemühte ich mich außerhalb meiner zwischenzeitlichen Krankenhausaufenthalte besonders intensiv in meiner zugewiesenen Region Firmen zu akquirieren. Der Erfolg weckte, wie so oft im Leben, Neider, die es siegreich verstanden durch arglistige Täuschung (angeblich sei ich ein Simulant) mich schnellstmöglich auszubooten. Der Erfolg währte für diese Futterneider jedoch nicht lange, denn die Textilbranche starb in dieser Zeit fast gänzlich aus. Der betreffende Neidhammel besaß sogar die Dreistigkeit mich nochmals nach einigen Monaten privat ohne Voranmeldung aufzusuchen, um sich nach meiner derzeitigen Tätigkeit auszufragen. Dass ich zwischenzeitlich auf einer 120 km entfernten Deponie für Asbest tätig war, habe ich nicht preisgegeben. Nicht weil er mir den Job, dazu war ein spezieller Lehrgang mit Prüfung nötig, streitig gemacht hätte, nein aus lauter Nächstenliebe. Er war ja 20 Jahre jünger und wohnte noch weiter weg.
Dieses Szenarium ist jedoch nicht allgemeingültig. Ein besonders positives Beispiel ergab sich von einem Textilunternehmer, der selbst schwer an MS erkrankte. Weil er langjährig als Unternehmer tätig war, kannte er die fiesen unseriösen Tricks einiger Unternehmen (aktuell Beispiel WV oder DFB) und hatte gegen seine Mitbewerber zu bestehen. Er war der Einzige, den ich meine gesundheitlichen Probleme komplett offen legte.
Er, und darüber bin ich ihn noch heute sehr dankbar, hat mir beim Einstieg zur Selbständigkeit engagiert geholfen. Besonders schwierig war dabei die Loslösung von einem Scheinunternehmen.
3. Was glaubt Ihr als Betroffene: Wie kann man das Thema enttabuisieren? Braucht es eine Lobby?
Die Enttabuisierung sollte möglichst von den Betroffenen selbst veranlasst werden. Es muss jedoch eine Hemmschwelle überwunden werden. Besonders betroffene Männer reagieren oft angsterfüllt beim Verwenden von Hilfsmitteln, weil sie es als beschwerlich und herabsetzend empfinden.
Beide Geschlechter halten sich jedoch in der Mehrzahl zurück, zumindest ist dies auch in unser Forum ersichtlich. Es sind zwar über 2500 Forenmitglieder registriert, jedoch nur ein kärglicher Teil äußert sich öffentlich. So ist es auch allgemein im gesellschaftlichen Leben.
Wenn eine Interessengruppe Gehör und Erfolg haben will, wäre eine Lobby sicherlich hilfreich.
Lobbyismus hat aber in der aktuellen Form keinen guten Ruf, weil andere Interessengruppen benachteiligt werden. Die größte Anzahl der unterschiedlichen Interessengruppen, dazu gehören sicherlich auch die Inkontinenten, weil sie absolut nicht die erforderlichen Ressourcen verfügen.
Ob damit die Demokratie untergraben wird? Zumindest werden die Politischen Entscheidungen wesentlich beeinflusst.
4. Welche Unterstützung erwartet Ihr von professioneller Seite? (ggf. Ärzte, Pflegepersonal, Apotheken, Sanitätshäusern)
Von den Ärzten: Ehrlichere Auskunft zu den möglichen Risiken bei erforderlichen Eingriffen. Aktivere Unterstützung bei der Bewältigung der negativen Auswirkungen.
Vom Pflegepersonal: Dass es zeitlich die Möglichkeit erhält, die Heimbewohner angemessen zu versorgen und auch leider, wie zu oft in der Realität anzutreffen, von unzureichend ausgebildete Hilfskräfte aus Kostengründen ersetzt werden.
Von Leistungserbringer(Apotheken, Sanih.): Redliche Angabe bei Angeboten an die jeweilige Krankenkasse. Es gibt hier im Forum einige Beiträge zu positiven als auch sehr negativen Leistungserbringern.
Leider hat der Gesetzgeber, insbesondere bei aufsaugenden Hilfsmitteln die Festbeträge so niedrig gesetzt, dass absolut keine menschenwürdige Versorgung möglich ist.
5. Werdet Ihr von euern Ärzten unterstützt? Wenn ja, wie? (genaue Diagnostik? Vorschläge zur Kompensation? Behandlungsmöglichkeiten?)
Nur soweit wie notwendig, d. h. Nachkontrolle, wie PSA-Werte und Überweisung bei Erfordernis an andere Fachärzte. Hinsichtlich der Bewältigung der Inkontinenz erfolgt nur wenig.
6. Ist die Unterstützung, die Ihr erhaltet ausreichend oder würdet Ihr euch mehr wünschen?
Erst nachdem ich mich hier im Forum stöberte, stieß ich auf Empfehlungen, die mir erheblich geholfen haben, eine akzeptable Lösung zur Bewältigung der Inkontinenz zu finden und praktisch umzusetzen. Seit über zwei Jahren kann ich mich sicher mit den ausgewählten Hilfsmittel in allen Lebenssituationen bewegen.
Gerne beantworte ich dir auch noch weitere Fragen oder falls noch Ergänzungen nötig sind.
Viel Erfolg bei deiner Abschlussarbeit und im weiteren Leben, bleib vor allem gesund!
Schön wäre es, falls ich mal in ein Heim gezwungen werde, wenn du dann mein Pfleger wärst.
Es grüßt Horsty