Hallo Martin und Sebald,
Ich freue mich über die lebhafte Diskussion.
Ich habe ein wenig den Eindruck, dass ihr beiden sehr stark eure persönlichen Erfahrungen und euren persönlichen Umgang im Blick habt. Dies ist ja auch vollkommen in Ordnung und nachvollziehbar. Ganz hervorragend, wenn euer Umgang mit der Inkontinenz euch nicht oder nur wenig ausbremst.
Wenn man den eigenen Blickwinkel einmal verlässt, stellt sich die Situation für viele Menschen aber anders dar.
Probleme und Befürchtungen aufzuzeigen, zumal wenn sie durch eine repräsentative Umfrage erhoben werden, hat aus meiner Sicht nichts mit Angstmacherei zu tun.
Sie schürt keine Ängste, sondern macht diese sichtbar. Das diese den Einzelnen verwundern, oder aus der subjektiven Wahrnehmung anders gesehen werden, kann, soll und darf Diskussionsgrundlage sein. Ganz sicher eine der Absichten solcher Erhebungen.
Wenn man also einmal den eigenen Blickwinkel verlässt, dann stellt man schnell fest, dass beispielsweise eine ausgeprägte Inkontinenz, nach wie vor einer der
Hauptgründe für eine Heimunterbringung ist. Diese basiert sehr häufig auf der daraus resultierenden Überforderung des häuslichen Pflegemanagements.
Hier kann man auch wieder zum eigenen Blickwinkel wechseln. Wenn es
heute gelingt seine Inkontinenz durch selbstständige Versorgung sicherzustellen, auszugleichen, kann sich dies ja auch
schnell ändern. Vor Alterung und zunehmenden Assistenzbedarf sind wir alle nicht geschützt. Ebenso können Krankheitsverläufe und / oder zunehmende Behinderung einen deutlich höheren Unterstützungsbedarf bedingen oder eine Selbstversorgung einschränken oder gar unmöglich machen.
Deshalb ist die jetzige Situation immer eine Momentaufnahme, die sich verändern kann.
Selbst ich, der mit seiner Inkontinenz, seiner Erkrankung, Behinderung und seinem Pflegebedarf ein relativ selbstständiges Leben führt, fürchte mich vor einem steigenden Unterstützungsbedarf und der damit verbundenen persönlich empfundenen Einschränkung meiner Selbstständigkeit, ja Lebensqualität. Befürchtungen die auch eher fiktiv sind. Ein vorgezeigter Weg ist auch bei mir nicht festgeschrieben. Ich gehe aber davon aus, dass niemand meine Sorgen anzweifelt oder in Abrede stellt.
Ich habe mich in der letzten Woche mit einer Mutter unterhalten. Die heute 12-jährige Tochter hat eine Spina bifida. In deren Folge besteht völlige Harn- und Darminkontinenz. Sie erzählte mir, welche Kämpfe sie ausgefochten hat, als es um die Einschulung ihrer Tochter ging. Aufgrund des Unterstützungsbedarfs bei der Inkontinenzversorgung, sollte die Tochter in eine Förderschule (früher nannte man dies Sonderschule) eingeschult werden. Bei der Tochter bestehen keinerlei geistige Einschränkungen, ganz im Gegenteil, sie ist heute auf einem Gymnasialzweig.
Sie berichtete auch von der Schwierigkeit der Versorgung ihrer Tochter, beispielsweise bei Ausflügen. Behindertentoiletten eignen sich nur sehr bedingt für ein größeres Kind, welches im Liegen versorgt wird. Behindertentoiletten verfügen in der Regel über keine Liegen.
Wenn ich mir über die vielen Jahre im Verein und Forum die Aussagen der Betroffenen anschaue, zieht sich doch ein Eindruck wie ein roter Faden durch sehr viele Diskussionen. Viele Betroffene berichten darüber, welch großer Schritt es für sie war zu ihrem Arzt "einzuweihen oder in Kontinenz- und Beckenbodenzentrum zu gehen – viele sagen nach Beratung und ggf. Behandlung: Wäre ich doch eher gegangen! Die Betroffenen müssen aber diesen Schritt erst einmal gehen. Einer der Schwerpunkte unseres Handelns hier, besteht doch aus Überzeugungsarbeit. Daran lässt sich aber erkennen, dass existierende Befürchtungen, Ängste und Scham sehr real sind.
Die unterschwellig ausgesprochenen kommerziellen Motive einer solchen Befragung befremden mich.
Der Auftraggeber, die Beteiligten und Unterstützer sind transparent. Die Studie zeigt ein repräsentatives Ergebnis. Diesem muss man persönlich nicht zustimmen, man kann und darf selbstverständlich eine ganz eigene Ansicht dazu haben. Dennoch ändert dies ja nichts an den erhobenen Zahlen. Wenn diese dem eigenen Bild nicht entsprechen ist dies legitim.
Ob man das Ergebnis aber dann diskreditiert, indem man unredliche Motive unterstellt, die aber ausschließlich aus Vermutungen und persönlichen Ansichten bestehen, halte ich für nicht gerechtfertigt.
Das in dieser Diskussion Hersteller aufsaugender Hilfsmittel ein Interesse daran unterstellt wird das: (Zitat) „Inkontinenz als peinlich, einschränkend oder sozial geächtet wahrgenommen oder erlebt wird“. Halte ich für weit hergeholt und nicht nur weil der Auftraggeber dieser Studie gar keine aufsaugenden Hilfsmittel im Produktsortiment führt.
Bei den respektiven Bedingungen der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung gesetzlich Krankenversicherter, die immerhin 90% der Versicherten ausmachen, verwundert mich eure Wahrnehmung. In diesem Marktsegmenten ist die freie Wahl des Hilfsmittels oftmals, auch nach dem Ende der Ausschreibungen, noch immer ein Wunschtraum, oder nach wie vor mit hoher wirtschaftlicher Aufzahlung verbunden (Mehrkostenbericht 2019: 72 Euro).
Bei einer durchschnittlichen Vergütung der Top 12 Krankenkassen (nach Anzahl der Versicherten) besteht die durchschnittliche Monatsvergütung (aufsaugende Hilfsmittel) gerade einmal bei
16,94 Euro. Schlusslicht ist die
KKH mit 9,20 Euro und die DAK mit 11,99 Euro. (Stand Oktober 2019). Die Erstattungen sind nach dem Ende der Auschreibungen durschnittlich gesunken!
Die DAK hat gerade Verträge für 145 Euro Monatspauschale im Stoma Bereich abgeschlossen. Viele Betroffene benötigen aber eine sehr indiviuell angepasste Versorgung, Beratung und fortlaufende (regelmässige) Anpassung. Wir empfehlen hier häufig Homecare. Exellent, wenn persönliche Beratung und Anpassung geboten wird. Vergütet wird diese aber nicht. Diese ist bereits in der Monatspauschale enthalten. Überlegt euch einmnal was dies mit Betroffenen macht, wenn die Versorgung vielleicht nicht mehr sichergestellt ist, was dies mit Menschen macht, die vor einer Stomaanlage stehen oder auch "nur" sich vorstellen damit Leben zu müssen. Sehr reale Probleme und Ängste!
Ich glaube diese Versicherten „kämpfen“ nach wie vor an anderen Fronten, als durch „Unterwanderung“ und „Suggestion“ den Herstellern zu mehr Marktanteil zu verhelfen. Hier geht es wohl für die Meisten um eine Versorgung die ihren persönlichen Lebensbedingungen entspricht, was den verständlichen Wunsch nach Diskretion, Sicherheit und Teilhabe wohl eindeutig einschließt.
Vielleicht gar nicht so Off Topic wie man zunächst vermuten könnte: Die DAK hat eine aktuelle Studie veröffentlicht, die sich dem Thema: "Vor welchen Krankheiten sich die Deutschen Fürchten" beschäftigt. Niemand würde wohl aus diesen Ängsten und Befürchtungen ableiten, dass beispielsweise die Pharmaindustrie die Ängste vor Krebs schürt, um mehr Medikamente abzusetzen.
www.aerztezeitung.de/Panorama/Vor-welche...uerchten-404634.html
Gruß
Matti