Hallo Matti,
nach dem ersten Lesen deiner Antwort vorgestern fühlte ich mich doch erst einmal persönlich getroffen. Weil ich mich aber (mal wieder) nicht im Forum anmelden konnte, konnte ich auch nicht antworten und hatte Zeit, über deine Ausführungen genauer nachzudenken...
In deiner Anwort stecken eine Menge an wirklich guten Beobachtungen und Erfahrungen!
Die habe ich aber (noch) nicht. Ich meinte meinen Beitrag wirklich in erster Linie auch als Darstellung meiner Erfahrungen und würde ihn gerne auch so verstanden wissen.
Ich möchte auf einige Aspekte noch mal kurz eingehen, weil sie mir immer noch wichtig sind:
Du schreibst:
"Zweifelsfrei ist das Thema Inkontinenz tabuisiert. Allgemein wird häufig von einer gesellschaftlichen Tabuisierung gesprochen. Ist dies aber so? Aus meiner Sicht wird stark tabuisiert, aber nicht durch die Gesellschaft, sondern gegenüber der Gesellschaft. Dies ist ein großer Unterschied!
Die Betroffenen verheimlichen, verstecken und tabuisieren IHRE Erkrankung teilweise in einer Art und Weise, dass bei mir die Frage aufkommt, wie eigentlich ein „normales“ soziales Leben noch stattfinden soll. (...)"
Lieber Matti, da habe ich mich echt von dir "ertappt" gefühlt, was den letzten zitierten Satz angeht! Aber: Ich habe bisher wirklich die persönlichen Erfahrungen gemacht, dass ich meistens und Fremden gegenüber immer besser meine Inkontinenz verstecke und verheimliche, um nicht aufzufallen. Ich bin relativ zu Anfang meiner "Inkontinenz-Geschichte" noch selbst und alleine zum Einkaufen gegangen, um auch z.B. den gesamten Wocheneinkauf für unsere Familie zu tätigen. Und dann bin ich bei genau der Gelegentheit im Discounter wirklich ausgelaufen - ohne das selbst sofort zu merken. Ich wurde von einer anderen Kundin angesprochen: "Sie, aus ihrem Einkaufswagen tropft da was! - Sie ziehen da eine Spur, merken Sie das denn nicht!" Die Dame ging dann laut schimpfend zu einer Angestellten des Geschäfts, während ich mich mit hochrotem Kopf auf dem kürzesten Weg zur Kasse begab. Ich hörte auf dem Weg noch Wortfetzen wie "unglaublich - total unhygienisch - unmöglich", die nur auf mich bezogen sein konnten. Es war mir sooooo peinlich! Es sei aber auch an dieser Stelle angemerkt, dass die Angestellte, die ich bis dato nur vom Sehen kannte, unglaublich souverän und entspannt reagierte, mir gegenüber total freundlich blieb und dann sogar noch einen Auszubildenden mit zu meinem Auto schickte, damit ich die Einkäufe schneller verstauen konnte. Seitdem nahm sie sich schon mehrmals an der Kasse Zeit für einen Small-Talk, erkundigt sich gelegentlich nach dem aktuellen Befinden usw.
Aber: Ich kaufe nicht mehr allein für unsere Familie ein.
Eine zweite Erfahrung bezieht sich auf die Blicke von VerkaufsberaterInnen in Bekleidungsgeschäften, wenn sie bemerken, dass ich einen Urinbeutel trage... In einem Geschäft wurde ich auch sehr höflich, aber auch sehr bestimmt gebeten, von einer Anprobe im Laden abzusehen - dabei war der Beutel wirklich dicht! Ich weiß inzwischen, in welchen Bekleidungsgeschäften ich mal etwas anprobieren kann und wo ich es besser lasse - und es gibt ja auch die Online-Versandhäuser...
Aber ich finde, diese Ereignisse sind insgesamt nicht sehr ermutigend, erst recht nicht, wenn man sich selbst noch nicht mal an die Erkrankung und z.B. an den Beinbeutel "gewöhnt" hatte.
Und dann hast du Recht, Matti: Dann beginnt das Verstecken und Verkriechen und soziales Leben, wie man es gewohnt war, findet nicht mehr statt! Da finde ich mich leider dann auch wieder.
Es ermutigt mich aber sehr, zu lesen und zu hören, dass es eben auch viele und hoffentlich mehr andere Sichtweisen - und Erfahrungen - gibt!!!!
Stichwort Kommunikation:
Mit meinem Arzt (zunächst war es ein Gynäkologe) habe ich sofort und ohne Umschweife darüber gesprochen.
Es wurde mir aber auch dort innerhalb weniger Wochen bewusst, dass dieser Arzt offensichtlich nicht täglich mit dem Thema Inkontinenz befasst ist - oder dass ihn mein "Fall" vielleicht total überforderte. Er lehnte jedenfalls meine weitere Behandlung ab, indem er sagte, dass er mich nach wie vor in Notfällen behandeln würde, aber mich bat, von weiteren, festen Terminen bei ihm abzusehen.
Mein Urologe ist derjenige, den ich regelmäßig zu den Katheterwechseln aufsuche. Zum Reden und Besprechen fehlt dem Arzt aber in der Regel einfach die Zeit. Er sagt selbst: "Reden hilft auch nicht." Inzwischen melde ich gelegentlich bei den netten Helferinnen schon einen erhöhten Gesprächsbedarf Tage vor dem Wechseltermin an.
Ich habe schon mal geschrieben, dass mein Urologe ein wirklich geschickter Handwerker ist. Aber mein Vertrauen zu ihm hält sich doch insgesamt in Grenzen. Hinzu kommen meine sehr schlechten Erfahrungen insbesondere mit Ärzten bei meinem letzten Krankenhausaufenthalt - immer wieder hatte ich damals das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. Dabei war ich super vorbereitet und optimistisch in die OP-Vorgespräche gegangen - auch mit langem Fragenkatalog (... viel länger noch als deiner, Matti...). Der wurde auch vom Operateur akribisch "abgearbeitet". Dann folgte das Aufklärungsgespräch mit dem Anästhesisten. Auch hier hatte ich einen Fragenkatalog im Gepäck - einfach auch deshalb, weil ich bei vorangegangenen Narkosen zunehmend mit Problemen im Anschluss zu tun und echt zu kämpfen hatte. Vom Anästhesisten wurde ich regelrecht "ausgelacht" - meine Sorgen wurden als "völlig unnötig und unberechtigt" dargestellt. Alle Fragen wurden - mit Blick auf die Uhr - kurz abgetan: "Das ist doch alles eine Routine-OP!" Damals hätte ich auf mein Bauchgefühl hören sollen und den OP-Termin canceln müssen - das ist mir heute völlig klar. Und ich hätte auch die Papiere, die man bei der Klinik-Aufnahme zum Ausfüllen und unterschreiben bekommt, viel näher studieren müssen, statt alles nach dem "Überfliegen" zu unterschreiben. Auch bei Routine-Eingriffen kann eine ganze Menge schief gehen!!!
Ich sehe Ärzte auch nicht als "Halbgötter in Weiß" - ich habe einfach nur noch Panik insbesondere gegen neue Ärzte, die ich nicht kenne, und gegen Krankenhäuser. (Gegen diese Panik muss ich dringend etwas unternehmen, das weiß ich selbst.)
Du schreibst (Zitat):
"Ja, gemeinsam sind wir stark! Noch viel stärker wären WIR, wenn von den 3000 täglichen Besuchern dieser Webseite täglich nur 0,1% einen Antrag auf Vereinsmitgliedschaft stellen würde. Dann hätten wir nämlich täglich drei neue Vereinsmitglieder, im Jahr gut 1000. Eine Vereinsmitgliedschaft kostet gerade einmal 24 Euro im Jahr!
Wenn wir als Verein auf Augenhöhe mit Politik, Kostenträgern und anderen Entscheidern diskutieren wollen, wäre es hilfreich eine (Mitglieder.-)starke Solidar- und Interessengemeinschaft hinter sich zu haben und zu vertreten. (...)"
Das sehe ich auch so!
...und ich kann auch nix dafür, wenn mein Mitgliedsantrag immer noch nicht bei euch eingetroffen ist. Ich habe ihn wirklich sofort auf den Weg gebracht!
Stichwort "geringe Zahl an Selbsthilfegruppen":
Du schreibst:
"Zum einen ist dies damit begründbar, dass Inkontinenz ganz häufig „nur“ ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung ist. Der Multiple Sklerose Betroffene mit Inkontinenz wird eine Selbsthilfegruppe zum Thema Multiple Sklerose eher vorziehen, wie eine Selbsthilfegruppe zum Thema Inkontinenz, die ja nur eines der Symptome ist. Dies gilt sicher für viele auslösende Erkrankungen.
Ein zweiter Grund ist sicher die Tabuisierung des Themas. Betroffene würden sicher deutlich offener über ihren Besuch einer Selbsthilfegruppe nach Krebsdiagnose berichten, wie über die Teilnahme einer Selbsthilfegruppe zum Thema Inkontinenz.
Ein dritter Grund und dieser ist leider oft der Vordergründige, liegt in der nicht vorhandenen Bereitschaft des ehrenamtlichen gesellschaftlichen Engagements:
„Ja, zu einer bereits bestehenden Selbsthilfegruppe würde ich ja gehen, aber eine gründen oder gar leiten, nein auf keinen Fall“.
Diesen Satz habe ich hundertmal gehört bzw. gelesen. Dies führt sich quer durch die Thematik."
Der mögliche erste Grund war für mich neu - klar, das kann sein!
Zum zweiten möglichen Grund - der Tabuisierung der Inkontinenz - haben wir uns ja ausgetauscht. Da fände ich es aber jetzt umso wichtiger, wenn es mehr Selbsthilfe-Gruppen übers Land verteilt gäbe!
Zum dritten Grund:
Ich habe versucht, eine Gruppe zu finden.
Darüber hatte ich berichtet. (Als mir im letzten Jahr ein Arzt (übrigens Fachgebiet HNO (!!!)) die Empfehlung gab, mich doch mal nach einer Inkontinenz-Selbsthilfegruppe umzuschauen, habe ich in Wohnortnähe keine gefunden! Wir leben im Münsterland - und mein Anruf in der Uniklinik Münster ergab, dass es dort in der Tat keine Inkontinenz-Selbsthilfe-Gruppe gibt! Und man konnte mir auch dort nicht sagen, wo es eine solche Gruppe gäbe. Das hat mich zunächst sehr enttäuscht - und später dann auch extrem gewundert! Ich bekam weiter eine sehr nette Mail aus der Klinik, in der es sinngemäß hieß, dass man mich gerne seitens der Klinik unterstützen würde, wenn ich Interessen daran hätte, selbst eine Inkontinenz-Selbsthilfegruppe zu gründen!)
Ich bin mit der Auskunft zu meinem Urologen gegangen. Ich wollte seine Meinung zu der Aussage hören. Er hat ein bisschen gelacht und dann meinte er, davon solle ich besser die Finger lassen: "Dann kommen alle möglichen Leute zu Ihnen und wollen wissen, wie es geht - und Sie haben selbst keine Ahnung!" Im Moment hat er damit Recht: Ich habe (noch) keine Ahnung. Aber grundsätzlich wäre ich bereit, auch eine Gruppe zu gründen. Aber wie geht das? Worauf kommt es an? Ich brauche noch Zeit und vor allem Informationen - und ein bisschen mehr an Erfahrung könnte auch nicht schaden!?!?!
Viele Grüße und einen schönen Abend wünscht dir
bienchen123