Die bahnbrechende Methode wird am Lukas-Krankenhaus praktiziert.
Neuss. Das Leiden betrifft mehr als zwei Millionen Menschen allein in Deutschland. Harn-Inkontinenz ist für diese Menschen ein Problem, das weit größer ist, als eine Krankheit es oftmals sein kann: Scham und Entwürdigung kommen hinzu. Die Urologen setzen seit kurzem auf eine ganz neue, zunächst in den USA entwickelte Methode, die weltweit Beachtung findet. Das Lukaskrankenhaus ist eine von zwei Kliniken in Europa. Es geht um eine Behandlung von Patienten, deren Harn-Schließmuskel defekt ist, etwa nach einer Operation. Es sei in etwa so, als werde ein Loch im Fahrradschlauch mit einem Flicken aus demselben Material repariert, formuliert es der Chefarzt der Urologie, Professor Theodor Otto, salopp.
Die bahnbrechende Therapiemethode in vereinfachter Form: Der Arzt entnimmt dem Betroffenen eine winzige Muskelprobe aus dem Oberarm. Aus diesem Muskelstück werden im Brutschrank Einzelzellen gezüchtet.
Nach etwa sechs Wochen haben diese Zellen eine besondere Befähigung zur gezielten "Reparatur" des defekten Muskels. Diese "Kultivierungsphase" kommt ohne die Verwendung von Zellen fremden Organismen oder anderer Patienten aus, es werden auch keine Stammzellen verwendet.
Nach der Erzeugung der neuen Zellen kommt der Patient ein zweites Mal ins Krankenhaus. Über eine Spiegelung der Harnröhre werden ihm dann in einem nur 15 Minuten dauernden Eingriff die Zellen es sind zwischen einer und sechs Millionen gezielt in den geschwächten Schließmuskel injiziert. Etwa dei Monate dauert es, dann übernehmen die "neuen" Zellen die Aufgaben im Muskel, die Inkontinenz verschwindet ziemlich plötzlich.
Professor Theodor Otto, Chef der Urologie, Weiterentwickler und Anwender dieser Methode, fasst die Ergebnisse zusammen: "Ich selbst war zuerst skeptisch. Doch es hat sich gezeigt: Die Methode ist neu, erfolgreich, klinisch bedeutsam, zahlenmäßig relevant, ethisch unbedenklich und frei von schweren Nebenwirkungen."
Dank einer Ausnahmegenehmigung der Bezirksregierung kann Otto die körpereigenen Zellen in einem eigens eingerichteten Labor kultivieren. 36 Patienten aus dem In- und Ausland hat er bisher behandelt, die Erfolgsquote liegt bei 80 Prozent. In Europa wird die Methode nur noch in Innsbruck angewandt, dort auch bei Frauen: eine Ausweitung, die Otto auch in Neuss für möglich hält.
Einen entscheidenden Unterschied gibt es allerdings zwischen den beiden europäischen Transplantationszentren: Im Innsbrucker Zentrum, einer nun privat geführten Ausgliederung der dortigen Universität, muss der Patient für die Kultivierung der körpereigenen Zellen etwa 8000 Euro zahlen.
Im Lukaskrankenhaus gibt es für die Betroffenen keine Eigenleistung. Aber auch hier zahlen nicht etwa die Krankenkassen für die Zellherstellung. Vielmehr übernimmt die Stadt als Träger des Krankenhauses, überzeugt von der neuen Methode, die Kosten.
Quelle:
Ulla Dahmen
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