Hallo,
Jetzt muss ich mich auch doch mal zu diesem Thema äußern. Und man mag mir verzeihen, wenn meine Ausführungen etwas länger werden, denn es ist schon viel geschrieben worden, was auch vieles zum Nachdenken anregt.
Diskussion, beziehungsweise Meinungsaustausch ist ja immer zu begrüßen, gerade dann, wenn es unterschiedliche Standpunkte oder Sichtweisen gibt, worüber jeder selbst reflektieren kann. Gerade denjenigen, die sich zu einem gewissen Thema noch gar keine Gedanken gemacht haben, eröffnet sich die Möglichkeit, eine eigene Meinung zu bilden. Manchmal auch, seine vorgefasste Meinung zu überdenken und zu revidieren.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt hier nicht den Mainstream treffe, in einem stimme ich mit dem Beitrag #31009 von Elke zu, manche Themen eignen sich schlecht zum Diskutieren, da schnell verschiedene Standpunkte erreicht werden, die sich dann, wie im Verlauf der Diskussion zu beobachten ist, schnell verhärten können und von den einzelnen Standpunktvertretern radikaler vertreten werden, als ihnen selbst lieb sein mag. Ich stimme hier auch Elke zu, dass sich dieses Thema hier wenig eignet, diskutiert zu werden, wie meine lange Ausführung auch belegt, denn das Thema ist sehr komplex und zu vielschichtig, als dass man ihm mit einem schnell hingeschriebenen Post gerecht werden könnte.
Dies habe ich oftmals bei politischen Diskussionen, gerade jetzt in Österreich, erlebt. Es kommt zu einer zunehmenden Radikalisierung unterschiedlicher Standpunkte. Deshalb, und nur deshalb, betrachte ich die Aussage von Elke als gerechtfertigt. Wenn die Standpunkte dargelegt sind, soll jeder darüber nachdenken, das dauert mitunter. Schärfere Tonierungen und Wiederholungen des eigenen Standpunktes, um den anderen davon zu überzeugen, bewirken oftmals das Gegenteil.
Hier gibt es offensichtlich zwei Standpunkte. Der eine gegen Pränataldiagnostik, um damit Abtreibungen selbst definierten nicht lebenswerten Lebens nicht zu fördern.
Der andere Standpunkt, die Eigenbestimmung der Frau und die eigene Verantwortung zuzulassen.
Wie richtig gesagt wurde, ist es eine ethische Frage und diese ist von der Gesellschaft zu klären, und leider ist auch nicht alles, was die Gesellschaft geklärt hat, immer als "richtig" oder "falsch" einzustufen. Das Recht auf Abtreibung wurde ja Jahrzehnte lang heftigst kontrovers diskutiert und gesellschaftlich entschieden. Und da gibt es meiner Meinung nach keinen Unterschied, ob ein behindertes oder ein vermutlich nicht behindertes Kind abgetrieben wird. Ist eine wirtschaftliche Entscheidung, ein Kind abzutreiben ethisch besser als sich gegen ein behindertes Kind zu entscheiden? Viele von uns hätten wohl sehr zeitig ihr Lebensende gefunden, wenn wirtschaftliche Überlegungen zu unserer Abtreibung geführt hätten, auch nicht toll.
Und ich stimme Matti zu, dass die Ethik den Möglichkeiten und tatsächlich umgesetzten Möglichkeiten hinterherhinkt, trotz aller Ethikkommissionen. Das mag auch mit wirtschaftlichen Interessen, von denen unsere Gesellschaft getrieben wird, sehr eng verknüpft sein.
Anderseits, wollen wir gegen Fortschritt in der Medizin sein? Würden wir es ablehnen, wenn mittels Pränataldiagnostik ein genetischer Defekt festgestellt werden kann, der dann mittels Gentechnik repariert werden kann? Wo sagen wir schon vorher Stop? Wo hätten unsere Großväter schon vorher Stop gesagt und wir würden es heute bedauern? Oder wo hätten sie schon Stop sagen müssen und wir bedauern es, dass sie es nicht getan haben?
Man mag und soll prüfend und differenziert über Forschung und die Abhängigkeit von Industrie und Profit denken und es ist mehr als bedauerlich, wenn Menschen durch Fehlentwicklungen und menschliches Versagen dadurch Schaden erleiden oder gar zu Tode kommen.
Ich möchte jetzt nicht unbedingt Fürsprecher der Pharma oder sonstiger Industrie sein, bin ihr auch nicht nahestehend oder gar ein Teil von ihr. Ich bin in der Medizintechnik beschäftigt und auch hier birgt technischer Fortschritt, wie überall Risiken.
Man denke nur an die Entdeckung der Röntgenstrahlen und deren medizinischen, aber auch kommerziellen Einsatz auf Jahrmärkten bis hin zu Fußvermessungen mittels Fluoroskop zur Auswahl der richtigen Schuhgröße bis 1960.
Hunderte von Forschern und Patienten starben und wurden, so wird in einem Spiegelbericht geschrieben, beim Versuch, Leiden zu heilen, "regelrecht exekutiert".
www.spiegel.de/einestages/wilhelm-conrad...niere-a-1061130.html
Zweifellos steckten und stecken kommerzielle Interessen dahinter, doch möchten wir heute auf die moderne Radiologie verzichten?
Die rasante Entwicklung im Bereich der IT verstärkt die Gefahr kommerziellen Missbrauchs und die Ärzteschaft steht vor neuen Herausforderungen ihres ethischen Handelns. Dazu gibt es einen lesenswerten Artikel in der pharmazeutischen Zeitung:
www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=57492
Ja, die Gesellschaft und jeder einzelne muss wachsam bleiben, ohne den Fortschritt zu verhindern. Welches Risiko auch eine allzu kritische Haltung mit sich bringt, zeigen die zunehmenden Zahlen an radikalen Impfgegnern und das Wiederaufflammen von längst ausgestorben geglaubten Krankheiten mitten in Europa, wie Pocken oder Kinderlähmung. Auch dazu ein lesenswerter Artikel:
www.zeit.de/2014/19/oesterreich-impfen-gegner
Die Entwicklung von neuen Impfstoffen und deren Zulassung ist kostspielig und kann nur von entsprechenden Firmen mit entsprechendem kommerziellen Interesse geleistet werden. Die Verantwortung ist groß und die Macht wird zweifellos auch missbraucht. Aber deswegen alle medizinische Forschung unter Generalverdacht stellen?
Am Ende trägt auch jeder einzelne Verantwortung für sich, wie weit er sich dort missbrauchen lässt, wo es vermeidbar wäre. Ganz vermeidbar ist dies sowieso nicht und eine allzu rigorose Verweigerung hat dann oft ein noch viel größeres Gesundheitsrisiko.
Darum, und wie gesagt, verzeiht mir meine längere Ausführung, begründet sich mein persönlicher Standpunkt gegenüber Pränataldiagnostik, und es geht ja hier nicht nur um den einen (oder zwei) infrage gestellten Test(e), es gibt ja unzählige Untersuchungsverfahren die hier dazugehören, von Ultraschall bis Gentesten, offen und sehe es auch als Chance, dass sich Eltern besser darauf vorbereiten können, ein behindertes Kind zu bekommen und nicht in der Schockstarre nach der Geburt Kindesweglegung zu machen.
Wie die Akzeptanz gegenüber Behinderungen allerlei Ausprägungen in einer Gesellschaft ist, ist das ethische Problem, das an der Wurzel gepackt werden muss, dann kommt es auch bei einer Pränataldiagnostik nicht zu einer reflexartigen Entscheidung zu einer Abtreibung.
Selektion, wie es Matti beschreibt, beginnt in unserer Moralvorstellung viel früher, in den Gedanken, die eben von einer Gesellschaft und den politischen Entwicklungen gesteuert und beeinflusst wird. Und dagegen anzukämpfen und die Wertschätzung jedes Lebens zu fördern, ist dringend angesagt.
Denn da gebe ich Matti durchaus recht, die Gen und Genomanalyse ermöglicht zukünftig wahrscheinliche Erkrankungen und Gesundheitsrisiken jedes einzelnen zu ermitteln und wirtschaftliche oder gar politische Interessen könnten schnell dazu führen, selektiv einzugreifen. Ein Schreckensszenario, welches Huxleys Schöne Neue Welt von 1932 weit übertreffen würde.
Johannes